The Good. The Bad. The Ugly.

Die Wanderwege führen in Spanien oft an den Grenzen der Farmen entlang, und deshalb hat man beim Wandern immer wieder einen Zaun neben sich, oder eine Mauer aus grob aufeinander geschichteten Wackersteinen, hoch genug eben, damit das Vieh nicht das falsche Gras frisst. So eine Mauer jedoch, wie sie uns auf den Höhenzügen der Sierra de Guadarrama nordwestlich von Madrid unterkam, hatten wir noch nie: Sauber gefügt, von immergleicher Höhe und Breite, abgeschlossen von einer überkragenden Mauerkrone - und vor allem, sie verlief kilometerlang durch den Wald. Was für eine Sträflingsarbeit das gewesen sein musste, das Ding zu bauen, sagten wir noch halb witzelnd, halb verwundert.

Aber genau das ist sie: Die Arbeit von Sträflingen, vom Zwangsarbeitern, genauer gesagt von politischen Gefangenen. Irgendwann in ihrem schier endlosen Verlauf macht sie einen Knick, das Gelände fällt steil ab, man sieht über die Mauer hinweg, und in der Ferne steht das 150 Meter hoch aufragende Beton-Kreuz des "Valle de los Caídos", das Tal der Gefallenen - die monumentale Gedenkstätte der Franco-Diktatur.


Von dem Städtchen San Lorenzo de El Escorial aus, das sich um die gewaltige Schloss- und Klosteranlage El Escorial herum entwickelt hat, die Philipp II. im 16. Jahrhundert bauen ließ, startet am Nachmittag der Bus zur Gedenkstätte, deren fast 14 Quadratkilometer großes Gelände von der Zwangsarbeiter-Mauer eingefasst ist, an der wir am Vortag entlang gelaufen waren. Vorwiegend ältere Leute fahren mit, und manchen von ihnen mag man vielleicht die halsstarrig vertretene Ansicht unterstellen, unter Franco sei alles besser gewesen. Aber der Diktator hat 1975 das Zeitliche gesegnet, als die jüngeren der Bustouristen noch nicht einmal geboren waren, die also keine anderen Zeiten als die demokratischen kennen. Warum ist der Bus dann bloß so voll? Warum kommen jährlich bis zu 500 000 Besucher hierher? Sind das alles Franco-Anhänger? Oder steht der Ausflug ins Tal der Gefallenen einfach und ganz unschuldig auf der Tourismus-Agenda?

Der Ort ist natürlich monströs groß: Eine riesige Anlage, ein endlos sich weitender Platz, ein über 262 Meter tief in den Fels hineingetriebener, hoher Stollen, der angeblich die längste Kirche der Welt darstellt. Was sich als "Basilika des Heiligen Kreuzes" religiös verbrämt, ist vor allem ein Mausoleum für Franco und für José Antonio Primo de Rivera, den Gründer der faschistischen Falange-Partei. Die Grabplatten, unter denen die sterblichen Überreste der beiden liegen, befinden sich vor dem Altar unter der in den Fels gehauenen Hauptkuppel. Und auf beiden Platten liegen üppige Gebinde frischer Blumen.

Das Perfide ist natürlich die Vereinnahmung der katholischen Glaubens für die Verherrlichung des Franquismus. Beispiel: Der erste Seitenaltar ist einer "Jungfrau von Afrika" gewidmet, weil der Putsch gegen die Republik ja in den spanischen Enklaven in Nordafrika begann. Die folgenden Seitenaltare sind den Schutzheiligen der spanischen Luftwaffe, des spanischen Heeres gewidmet, und so weiter.

Nationalklerikalismus, so lautet der Fachbegriff: Nach dem Zweiten Weltkrieg war es nicht mehr opportun, faschistisch zu sein, Franco schaltete um auf eine religiöse Legitimation seiner Diktatur, und so bezahlten die Spanier mit Peseta-Münzen, auf denen Franco mit dem Schriftzug "Franco, caudillo por la gracia de Diós" abgebildet war - "Führer von Gottes Gnaden".

Auch wenn es im Bürgerkrieg zu üblen antiklerikalen Übergriffen gekommen war - noch perfider als die Indienstnahme der Kirche durch die Diktatur ist es, dass die Kirche das bereitwillig mit sich machen ließ. Der gute Johannes XXIII. war es, der den Schauerstollen in den Rang einer Basilika erhob, als er in den Fünfzigern fertig wurde. Die Zwangsarbeiter erhielten übrigens Haftverkürzung im Tausch für ihre Mitarbeit am gottesfürchtigen Werk.

Tja - warum macht man 2018 als Spanier ein Selfie von sich knieend neben Francos Grablege? Ist das bloß die übliche Ego-Show - oder ein Akt der Bekenntnis? Eine Art Treuegelübde? Eine politische Manifestation? Oder sind die Franco-Jahre schon so verblichen, dass das Diktatoren-Grab einfach eine Sehenswürdigkeit wie so viele andere in Spanien geworden ist? - Bei dem Mann, der niederkniet und die Grabplatte des Falange-Gründers küsst, scheidet die Zweideutigkeit immerhin aus, und auch die drei Damen, die sich vor Francos Grab mit der spanischen Fahne fotografieren, knipsen nicht einfach nur ein Erinnerungsfoto.

Vielleicht kommen sie ja, weil man dieses Foto bald nicht mehr wird machen können. 43 Jahre nach seinem Tod soll Franco demnächst umgebettet und das Tal der Gefallenen in einen Ort der Versöhnung umgestaltet werden. Die spannende Frage ist, wie das gehen soll, bei der hochgradigen Kontamination dieser 14 Quadratkilometer mit Franquismus.


In der Sierra de la Demanda, südöstlich von Burgos, haben wir uns rund drei Wochen herumgetrieben, dann betreten wir Indianerland. In einem Städtchen südlich des Gebirges geraten wir in eine Kneipe, die mit Filmplakaten des Italo-Western "Zwei glorreiche Halunken" dekoriert ist, weltweit bekannt unter dem Titel "The good, the bad and the ugly", der vor über 50 Jahren in der Gegend gedreht wurde. Verblüffend: Das langgestreckte, weite Tal, durch das wir am nächsten Tag laufen, ist von felsigen Bergformationen genau jener Art eingefasst, auf denen sich im Western klassischerweise urplötzlich Heerscharen von Indianern gegen den Himmel abheben.

In Santo Domingo de Silos, ein Stündchen Fußmarsch von dem bis heute existierenden Film-Friedhof der Schluss-Szene entfernt, treffen wir uns abends auf dem Platz mit Edda, die auf einen Kurztrip aus Heidelberg angereist ist. Tags drauf fahren wir ein paar Kilometer zu der Wiese, auf der das Ferien-Fertighaus steht, das wir für drei Tage gemietet haben. Die Frauen machen Ausflüge, Wolfgang widmet sich vor allem dem Gemüsegarten, der zum Haus gehört und den die Vermieterin ausdrücklich zum Ernten freigegeben hat. Nach all dem Kochen, Essen, Trinken und Ratschen verabschieden wir Edda und laufen weiter nach Süden. Eine karge, rauhe, trockene Landschaft, in der man vielleicht einen Film über den spanischen Bürgerkrieg drehen könnte.


Ursprünglich hatten wir geplant, dem Lauf Duero zu folgen, der in der Sierra de la Demanda entspringt, die iberische Halbinsel weiter genau in westlicher Richtung durchfließt und in Porto in den Atlantik mündet. Diesen Plan geben wir kurz entschlossen auf, nachdem wir einen Tag lang am Duero entlang gelaufen sind: Durch langweiligere Gefilde kann man kaum wandern. Kilometerlange Mais- und Sonnenblumenfelder säumen die schattenlosen Wirtschaftswege in der berg- und hügellosen Flussebene, und wenn der Weg tatsächlich doch mal am Ufer verläuft, dann zeigt sich ein träger, schlammiger, grüner Fluss, so unattraktiv wie die Bewässerungskanäle, die sein Wasser zu den Beregnungsapparaturen der Felder führen.

Wir setzen uns, zunächst etwas ratlos, in den Bus nach Valladolid, wo wir uns ein nettes Hotel nehmen und Anjas Geburtstag feiern. Anja findet schließlich die Lösung im Internet: Es gibt einen Fernwanderweg, der von Valencia, also vom Mittelmeer aus, quer durch die ganze iberische Halbinsel nach Lissabon führt. So sitzen wir zwei Tage später im AVE, dem spanischen ICE, huschen durch die auch südlich von Valladolid immer noch todlangweilige Duero-Ebene und steigen eine halbe Stunde später in Segovia aus, wo sich am Horizont schon die Gebirgskette zeigt, der wir die nächsten Wochen in südwestlicher Richtung folgen werden.

Bevor wir in den Zug steigen, unternehmen wir noch einen Tagesausflug, der fast eine Art Pflichtprogramm ist, wenn man in Südamerika gelebt hat. Eine halbe Stunde Busfahrt von Valladolid entfernt liegt das Städtchen Tordesillas, wo Spanien und Portugal den Vertrag schlossen, in dem sie ihre Herrschaftssphären in der Neuen Welt festlegten. Also die juristische Grundlage dafür, dass man in Brasilien portugiesisch und fast überall sonst in Südamerika spanisch spricht.

Das Verblüffende ist, dass der langwierig ausgehandelte Vertrag bereits 1494 unterzeichnet wurde, also gut anderthalb Jahre nachdem die Eingeborenen die Schiffe der Kolumbus an ihrer Küste entdeckten, der nicht einmal wusste, wo er war. Und ebenfalls recht verblüffend ist, wie im Museum von Tordesillas - es ist in dem Palast untergebracht, in dem tatsächlich die Verhandlungen geführt worden sind - dieser unerhörte Akt imperialer Aufteilung der Welt dargestellt wird: Ohne auch nur den leisesten Hauch von (Selbst-)Kritik. Dass mit dem Vertrag die sinnlose Zerstörung hochentwickelter Reiche sanktioniert wurde, dass mit ihm der Raub- und Plünderungskolonialismus gerechtfertigt wurde, dass er juristischer Ausgangspunkt von Zwangsarbeit, Sklaverei, Ausrottung von Millionen von Menschenleben war - kein Wort davon in der Ausstellung. Als wäre es das Normalste der Welt, referiert sie das Vertragswerk und sein Zustandekommen, und den Höhepunkt dieser Art der Geschichtsvergessenheit stellt die riesige Vergrößerung eines Fotos von 1994 dar, auf dem der spanische König und der portugiesische Staatspräsident zu sehen sind, die in Tordesillas den 500. Jahrestag der Aufteilung der Welt feiern.


Von Segovia führt der Weg nach Madrid über die Sierra de Guadarrama. Der Weg hinauf zum Pass ist breit und bequem angelegt, für die königlichen Kutschen. Auf dem Pass kreuzt der alte Königsweg den Fernwanderweg nach Lissabon. Wir biegen nach Südwesten ab, und da wir keine Lust haben, für ein Nachtquartier ab- und am nächsten Morgen wieder aufzusteigen, beschließen wir, auf dem Kamm das Zelt aufzuschlagen, obwohl es weit und breit kein Wasser gibt. Die Unannehmlichkeit der Katzenwäsche wird aufgewogen durch das Gefunkel in der Ebene, als es Abend wird: Wir sind in freier Natur, und in der Ferne sehen wir die Lichter der Metropole Madrid.


In den folgenden Tagen - mittlerweile sind es schon zwei Wochen - beglückwünschen wir uns immer wieder gegenseitig zu dem Entschluss, den Duero-Plan aufgegeben zu haben. Denn die Wanderroute durch die Gebirgsketten des südlichen Kastiliens ist eine wunderbare Entdeckung. Wir laufen in stillen Tälern, die von hohen, felsigen Gipfeln gesäumt sind, durch kleine Dörfer und Städte, an den Ufern von Flüssen und Stauseen. In den niedrigeren Gebieten ernten wir Pflaumen, Pfirsiche, Äpfel, Weintrauben, und vermutlich haben wir unser ganzes Leben nicht so viele Feigen gegessen wie in den vergangenen zwei, drei Wochen. Je später im Jahr es wird, desto weniger gleichen sie Früchten, desto mehr konzentrieren sie Geschmack und Süße, wie Pralinen.


In den höheren Lagen färben sich die Pappeln schon gelb, und einmal ist die Nacht zu kalt für unsere Schlafsäcke; wir frieren wie die Schneider. Ohne Zelt wäre die Wanderung hier schwierig, in den kleinen Dörfern gibt meist keine Übernachtungsmöglichkeiten, sodass wir uns immer wieder irgendwo ein Plätzchen in der Natur suchen müssen. Je tiefer und je weiter westlich wir kommen, desto milder sind die Nächte, desto heißer sind die Tage. 


Wie schon so oft gesagt: Das Beste an der Wanderung ist die Abwechselung. Vorgestern waren wir in einem schicken kleinen Landhotel mit vorzüglicher Küche, die Nacht davor haben wir auf einem terrassierten Feld am Ufer eines Sees verbracht, in dem wir uns gewaschen haben und ein paar Züge geschwommen sind, und als die Sonne untergegangen war, haben wir noch ein Stündchen in den Sternenhimmel geschaut. Welchem der beiden Abende, welcher der beiden Nächte wäre der Vorzug zu geben?

Immer wieder fällt uns der Besitzer der österreichischen Firma ein, die 2010 die Stahlseile und die Winden geliefert hat, mit denen die 33 verschütteten chilenischen Bergleute aus der Tiefe gezogen wurden. Wolfgang traf damals, als die 33 gerettet waren, einen Ingenieur der Firma, der nebenbei erwähnte, sein Chef liebe Patagonien, gehe aber nur nach Chile und nicht nach Argentinien, weil es in Argentinien, anders als in Chile, keine Fünf-Sterne-Lodges gebe. Armer reicher Bursche, der in der Natur unbedingt goldene Wasserhähne braucht.


Wir haben gebucht: Am 2. November fliegen wir von Lissabon nach Frankfurt. Noch knapp vier Wochen also. Der Arbeitnehmer jubelt, wenn er einen Monat Urlaub vor sich hat, und für uns ist es der Anfang vom Ende dieser Reise, die - wir können es manchmal selber kaum glauben - am 15. März in Frankfurt-Sachsenhausen begann.

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Kommentare: 4
  • #1

    Klaus (Montag, 08 Oktober 2018)

    Großartig, in weniger als einem Monat seid Ihr durch. Bin so stolz auf Euch.

  • #2

    Lutz (Mittwoch, 10 Oktober 2018 09:38)

    Schade, dass eure wunderbare Reise so schnell zu Ende ist!!

  • #3

    Manuel Coronado (Donnerstag, 11 Oktober 2018 10:50)

    Seguro que habeis disfrutado, es una gran travesía, llena de contrastes. Me gusta tu reflexión sobre el Valle de los Caídos

  • #4

    Monika (Sonntag, 14 Oktober 2018 11:30)

    "Nur Eines will ich noch: das Ende - das Ende! -"