Der "Zauberberg" erschien 1924, und seitdem treibt die literarische Welt eine Frage um, auf die sie bisher vergeblich eine Antwort suchte: Wo hielt sich die schöne, jedoch innerlich
"wurmstichige" Clawdia Chauchat auf, nachdem sie in der Faschingsnacht dem guten Hans Castorp den Kopf verdrehte, indem sie ihm verruchterweise ihren Drehbleistift lieh, und bevor sie, zwei Jahre
später, an der Seite von Mynheer Pieter Peeperkorn zurückkehrte ins Lungensanatorium Berghof? - Sie sei "in den Pyrenäen" gewesen, teilt der Autor lapidar mit - schön und gut, aber wo da? - Wir
sind stolz und glücklich, dieses Rätsel nun, 94 Jahre nach der Veröffentlichung des "Zauberbergs", endlich lösen zu können: Madame Chauchat war in Eaux-Bonnes, einem Kurort in den französischen
Pyrenäen, südlich von Lourdes gelegen; da hört man sie förmlich heute noch die Glastüren des Hotels "Richelieu" krachend zufallen lassen.
Aber im Ernst - warum wirken Heilbäder und Kurorte so oft so, als wäre die Zeit stillgestanden? Liegt das wirklich bloß daran, dass die Krankenkassen heutzutage geiziger sind als früher? Sind die
Therapien, die dort zur Anwendung kamen, heutzutage in Misskredit geraten? - Jedenfalls sind wir in den Pyrenäen durch viele Orte gekommen, in denen riesige Sanatorien, imposante Kurhäuser und
pompöse Grand-Hotels leerstanden, verfielen oder im besten Fall in Ferienapartements umgewandelt worden waren. Und Eaux-Bonnes war der toteste dieser toten Orte. Aufgegebene Geschäfte,
verrammelte Bars, geschlossene Restaurants, und das einzige Lädchen am Ort ist sündhaft teuer und verkauft - von 9 Uhr an! - Croissants, die zu den miserabelsten ganz Frankreichs gehören.
In diesem etwas bizarren Ort hatten wir eine ebenfalls etwas bizarre Ferienwohnung gemietet, weil uns Roxana und Axel, aus Paris kommend, ein verlängertes Wochenende lang einen Besuch abstatten.
Roxana und Anja fahren einen Tag lang nach Lourdes. Ein bedrückender Ausflug angesichts der vielen, auch jungen Leidenden, die auf ein Wunder hoffen. Wenn man, sozusagen gut lutherisch, an die
Wunderheilungen nicht glaubt, die die katholische Kirche verheißt, dann tun einem die Hoffenden gleich doppelt leid, erstens ihrer Leiden wegen, zweitens ihrer unausweichlich bevorstehenden
Enttäuschung.
Uns Männern gelingt unterdessen die Glanz- und Meisterleistung, uns auf einem etwas längeren Spaziergang gleich zweimal zu verlaufen, und zwar so kräftig, dass wir heilfroh sind, gerade noch im
letzten Büchsenlicht und vor den Abendnebeln auf ein rettendes Waldsträßchen zu stoßen, das uns in sehr, sehr vielen Kehren zu Tal führt. Wo wir um 22.15 Uhr am Treffpunkt ankommen, rund vier
Stunden später als geplant.
Nach dem ansonsten katastrophenlosen, heiteren Wochenende voller guter Gespräche fahren uns Axel und Roxana noch zwei, drei Kilometer nach Spanien hinein, wo wir zu einer letzten
Pyrenäen-Wanderung starten. Eine wunderbare Abschiedsvorstellung: Wir kraxeln ein enges Tal hoch, oben weitet sich der Pass zu einem flachen Sattel mit einem von Wiesen eingefassten See, an dem
Pferde grasen, und hinter dieser Idylle zeigen sich am Horizont - es sind ja nur ein paar Kilometer Luftlinie - nochmal die wunderbaren Gipfel, um die wir in den Tagen zuvor herumgewandert sind.
Canfranc heißt der Ort, in dem wir übernachten, ein erstaunlicher Ort, denn er hat einen knapp 250 Meter langen Bahnhof - ein gewaltiger architektonischer Historien-Schinken. Wie kommt ein
spanisches Winzlingsnest wie Canfranc zu so einem Ungetüm an Bahnhof? Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, wurde der Bahnhof ein Vierteljahrhundert später eingeweiht, wobei natürlich nicht der
Bahnhof selber, sondern die Untertunnelung der Pyrenäen für die Eisenbahnstrecke von Frankreich nach Spanien so lange gedauert hatte. Da beide Länder Eisenbahnsysteme mit unterschiedlicher
Spurbreite hatten, mussten die Reisenden damals hier umsteigen, die französischen Züge fuhren auf der einen Seite des Bahnhofs vor, auf der anderen Seite konnten die Fahrgäste, nachdem sie die
Formalitäten von Zoll und Passkontrolle erledigt hatten, auf der anderen Seite mit dem spanischen Zug weiterfahren. Und bei Wikipedia lesen wir noch, dass hier in Canfranc die Nazis das Gold
übergaben, mit dem sie in Spanien und Portugal kriegswichtige Materialien kauften. Schließlich - ein weiteres historisches Detail - wurde in diesem Bahnhof auch eine Szene aus "Doktor Schiwago"
gedreht.
Aber die goldenen Zeiten der Eisenbahnreise sind längst vorbei, das Ungetüm liegt seit Jahrzehnten still, ein Teil wird als Museum benutzt. Von hier fahren, so weist es der Fahrplan aus, drei
Züge täglich ab, wir wollen den um 8:45 Uhr nehmen, beschließen wir am Abend vorher. Am nächsten Tag allerdings stellen wir fest, dass wir die "Bemerkungen" übersehen haben: Dieser dritte Zug
fährt nur viermal im Jahr, nur an Feiertagen.
Wir trampen deshalb nach Jaca, eine Kleinstadt am Südrand der Pyrenäen, von dort aus nehmen wir den Bus über Zaragoza nach Logroño - und warum das? Eigentlich wollten wir ja wandern... Aber der
Wanderweg von Canfranc nach Jaca führt durch ein enges Tal, durch das sich auch die autobahnähnliche Pyrenäen-Pass-Straße zwischen Frankreich und Spanien schlägt. Also keine besonders attraktive
Strecke.
Und von Jaca nach Logroño? Da verläuft der Camino Francés, eine der beliebtesten Varianten des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela. Im Internet ist sein Streckenverlauf zu sehen, und der hat
uns kräftig abgeschreckt. Den Pilgern war die Landschaft egal, sie wollten sich schließlich in Frömmigkeit und nicht in schöner Gegend ergehen, und deshalb führt der Sankt-Jakobs-Weg von Ort zu
Ort, von Kloster zu Kloster, von Kirche zu Kirche. Und das heißt heute: Ungeniert an Straßen, Bahnstrecken, Autobahnen entlang, durch Industriegebiete, Vororte und Wohnsiedlungen, und einmal
läuft er sogar schnurgerade auf die Landebahn eines Regionalflughafens zu, umgeht sie rechtwinkelig und schlägt auf der anderen Seite des Rollfeldes seine ursprüngliche Richtung wieder ein.
Greifen wir ein bisschen vor: In der Nähe von Burgos ist unsere Strecke eine Tagesetappe lang identisch mit dem Pilgerweg. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Pilger alle von
Ost nach West laufen, während wir von West nach Ost laufen. Also in eine Richtung, in die nicht gepilgert wird. Früher mögen sie ja auf dem selben Weg zurückgegangen sein, aber heute laufen alle
nur hin, und zurück wird gefahren oder geflogen. Mehrfach werden wir deshalb angesprochen: Ob wir denn tatsächlich auf dem Rückweg seien?
Och, so stark befahren seien die Straßen in Spanien doch nicht, sagt uns eine Brasilianerin aus Porto Alegre, die seit 15 Jahren in München lebt, bei BMW arbeitet und im Urlaub alleine den Camino
Francés nach Santiago geht - dass der Weg so läuft, wie er läuft, stört sie nicht. Eine Niederländerin, die ebenfalls alleine unterwegs ist, zählt pragmatisch die Vorteile des Jakobsweges auf:
Man kann vielerorts und billig übernachten, es gibt entlang der Strecke viele Cafés und Restaurants, man kann für sich sein, findet aber auch Gesellschaft, wenn man will. Man muss natürlich außer
"gracias" auch kein Spanisch können. English spoken. Die Brasilianerin lobt noch das gute Essen in Spanien, und natürlich die Sicherheit vor Überfällen und generell vor Kriminalität.
Uns fällt der Unterschied zum Pyrenäen-Wanderpublikum auf. Anders als im Gebirge sind hier mehr Menschen unterwegs, die das Wandern offenbar nicht gewöhnt sind; manchen meint man an der
Leidensmiene die Blasen an den Füßen ablesen zu können. Kinder laufen nicht mit, und generell für Familienausflüge scheint der Jakobsweg auch nicht geeignet zu sein. Größere Gruppen sieht man
dagegen öfters.
Wir übernachten in einer kleinen Privatpension, die einem ehemaligen Gastarbeiter gehört, der 34 Jahre lang in der Schweiz gelebt hat. Abendessen, sagt er uns, gebe es im Hotel bis 21 Uhr. Wir
denken, wir haben uns verhört - dass es von 21 Uhr an Abendessen gibt, so wie in Spanien üblich. Aber tatsächlich sind wir die letzten, als wir kurz vor neun kommen, an allen anderen Tischen wird
schon der Kaffee getrunken. Die Wirtin sagt uns, sie müsse sich auf ihr Publikum einstellen, und das bestehe praktisch ausnahmslos aus Ausländern. Die Speisekarte ist deshalb fünfsprachig.
Religiös motivierte Pilger, ja, die gebe es auch, aber das seien höchstens zehn Prozent. Und die anderen 90 Prozent, was treibt die an? Die Wirtin ziert sich ein bisschen, etwas Kritisches über
ihre Gäste zu sagen: Pilgern sei eben eine Mode geworden. Dies Jahr zum Beispiel gingen den Weg so viele Norweger wie niemals zuvor. Und warum? "Naja, da ist wahrscheinlich in der norwegischen
Presse ein Artikel über den Pilgerweg erschienen, und schon kommen sie alle". Auch bei Koreanern sei der Jakobsweg zurzeit groß en vogue.
Logroño ist das Eingangstor zur Sierra de la Demanda, ein freundliches, stilles, dünn besiedeltes, einsames Mittelgebirge, in dem wir uns über zwei Wochen lang aufhalten - ganz nett und
gemütlich, wenn auch längst nicht so spektakulär wie die Pyrenäen. Mitunter ist es schwierig, etwas zum Einkaufen und zum Übernachten zu finden, obwohl es einen markierten Rundweg mit
Etappenvorschlägen gibt. Ein paarmal schlagen wir das Zelt auf, weil uns schlicht nichts anderes übrigbleibt.
Tagelang laufen wir durch menschenleere Wälder, entweder auf Schottersträßchen und Feuerschneisen durch monotone Kiefernplantagen, oder auf gewundenen Waldpfaden durch riesige Eichengehölze, in
denen sich gewaltige alte Stämme vor der Motorsäge retten konnten. Manche der Dörfer sind Schmuckkästchen, mit romanischen Kirchen und wappengeschmückten Herrenhäusern, andere scheinen sang- und
klanglos dem Verfall anheimgegeben zu sein. Aber allem ist gemeinsam, dass sie praktisch nur noch von alten Leuten bewohnt werden. Zum Pendeln liegen sie schon zu weit entfernt von Burgos,
Logroño oder Madrid.
Aber zuvor verbringen wir ein paar Tage in Logroño, und zwischendrin unterbrechen wir unser Waldläufer-Dasein, um uns Burgos anzuschauen. Was uns, wie vermutlich allen Mittel- oder Nordeuropäern
gefällt, ist das Leben abends auf den Straßen. So ähnlich wie es der knallblöde Schlagertext sagt: "Die Sonne scheint bei Tag und Nacht... viva España": Wenn sich die Kneipenviertel beleben, wenn
die Spanier mit einem Gläschen in der Hand herumstehen, Bekannte treffen, mit Freunden palavern, hier eine Kleinigkeit essen, dort noch ein Weinchen trinken und übrigens noch bemerkenswert viel
rauchen. Sie kommen uns ein bisschen hemdsärmeliger vor als die höflichen, formelleren Franzosen, aber eigentlich nicht weniger freundlich, mit ihrem großzügigen Gebrauch der zweiten Person, egal
ob Singular oder Plural, und ihrem ewigen "hola" und "vale".
Ja, und natürlich haben wir erst darüber gestaunt und uns nun langsam daran gewöhnt: Dass man spät isst. Dass der Bäcker selbst in Burgos erst um neun Uhr öffnet. Dass die Universitätsbibliothek
in Logroño von 14 bis 17.30 Uhr schließt. Dass die Ausstellung im Kulturinstitut der regionalen Bank von 12 bis 14 und von 17 bis 20 Uhr geöffnet ist, wobei man sich fragt, wie die Dame an der
Kasse und die Aufseher auf ihren Acht-Stunden-Tag kommen. Kurzum, wie sich die altehrwürdigen Alltagstraditionen Spaniens mit den Zwängen und Erfordernissen einer modernen Gesellschaft
vereinbaren lassen. Das mit der Siesta habe sich ja längst geändert, sagt uns eine junge Psychologin, in ihrem Job arbeite sie von 12 bis 20 Uhr, ohne Unterbrechung. Ja, sicher, auch Kaufhäuser
und Supermärkte haben durchgängig geöffnet.
Bloß dass zwischen 14 und 17 Uhr kaum Kunden kommen, weil eben doch immer noch (fast) ganz Spanien am Nachmittag in diese todesähnliche Starre namens Siesta fällt.
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Monika (Sonntag, 16 September 2018 19:16)
Dem Haupt fügt sich der Helm:
ob sich der Zauber auch zeigt?
- »Nacht und Nebel,
Niemand gleich!« -
Sonia (Montag, 17 September 2018 21:06)
Feliz aniversário Anja! você está com uma cara ótima de quem está se divertindo muito com a caminhada! Bjs :)
Anja (Dienstag, 18 September 2018 15:57)
Danke ihr Lieben! Danke fürs Mitlesen, eure Kommentare und Interesse!