Käse, Kater und Kanäle

"Hier sieht's ja aus wie in Deutschland!", ruft Anja aus, erwundert und auch ein bisschen enttäuscht. Dass Südfrankreich nicht uniform und nicht überall provençalisch ist, war uns spätestens in den Cevennen klargeworden. Aber muss es deshalb gleich wie im Schwarzwald sein, mit dichten, dunklen Nadelwäldern, tief eingeschnittenen Tälern und saftig grünen Wiesen?

Vor Lodève, wo wir - siehe den vorherigen Blogeintrag - ein paar Tage gefaulenzt hatten, waren wir über heiße, karstige Hochebenen gelaufen, in denen uns immerhin ein paar Dutzend der wer weiß wie vielen Ziegen begegneten, denen die Tonnen und Abertonnen an Ziegenkäse zu verdanken sind, die in diesem Land täglich auf den Markt kommen. Seine 60 Ziegen, erklärt uns ein Mann vom Fach, gäben täglich "ungefähr 88 Liter" Milch. Je nach Sorte braucht man für ein Kilo Käse vier bis 16 Liter Milch... Eigentlich müsste man sich also als Wanderer unentwegt zwischen den Ziegenherden verlaufen, bei den gewaltigen Ziegenkäse-Bergen, die sich in den Fromageries, den Epiceries und den mit einem geradezu impertinent luxuriösen Angebot protzenden Supermärkten an den Ausfallstraßen auch kleinerer Städte auftürmen. Aber nichts da - die Erzeuger dieser Leckereien lassen sich nur selten sehen, und wenn mal eine Herde auf die Weide getrieben wird, machen es die anderen Touristen genauso wie wir: Sie knipsen den offenbar seltenen Anblick.

Cirque de Navacelles
Cirque de Navacelles


Vor Lodève waren wir noch in den tiefen, felsigen Abgrund abgestiegen, den das jetzt fröhlich rauschende Flüsschen Vis hunderte von Metern tief in die Landschaft hinerodiert hat - der Cirque de Navacelles. Längst nicht so spektakulär, aber für unseren Laienblick grundsätzlich ähnlich sieht der weite Talkessel aus, aus dem wir nach unseren Köchel- und Süffel-Tagen in Lodève aufsteigen. Aber als wir oben am Kesselrand stehen und über ihn nach Südwesten hinausschauen können, staunen wir über den jähen Wandel des Landschaftscharakters: Wie in Deutschland!

Anders allerdings als der Schwarzwald ist diese Ecke Frankreichs sehr, sehr dünn bevölkert. Was es so gut wie gar nicht mehr gibt, sind die "résidences secondaires", also die Zweitwohnungen und Wochenendhäuser, deren abweisend verrammelte Fensterläden in touristischeren und näher an den Ballungsräumen gelegenen Regionen das Erscheinungsbild der Dörfer bestimmt. Aber hier geht es durchaus nicht hübscher zu. Nichts von dem wenn auch etwas aufgemaschelten, aber eben doch ganz netten Anblick der Touristennester an der Ardèche mit ihrer jahrhundertealten Bausubstamz - diese Wildnis hier wurde offenbar erst im 19. Jahrhundert ein bisschen erschlossen. DIe bescheidenen, schmucklosen Häuser und Gehöfte sind grau verputzt, und offenbar fühlt sich keine Bau-, keine Denkmalschutz-Behörde bemüßigt, auch nur die schauderhaftesten An- und Ausbauten zu verbieten. Merkwürdig - woanders jammern die Hausbesitzer, dass ihnen das Amt die Farbgebung der Fensterläden vorschreibt, und hier wandern wir nun durch Dörfer, denen man das Prädikat "hässlich" kaum ersparen kann.

Immerhin sind die Immobilienpreise noch nicht so abgedreht wie anderswo. Madame Françoise, bei der wir ein nettes, einfaches chambre d'hôtes nehmen, kam vor ein paar Jahren mit ihrem Mann in die Gegend, und zwar aus Grasse, der Lavendel- und Parfümstadt in der Provence. Dort, sagt sie, hätten sie für den Preis ihres Häuschens gerade mal zwei Garagen kaufen können. Sie sind beide Rentner, aber solche von der aktiven Sorte. Abends lassen sie uns allein, weil sie im Dorf einen Dokumentarfilm zeigen, der die durch das Agrobusiness erzeugten ökologischen Katastrophen weltweit beschreibt. Na, so an die zwanzig Leute, sagen sie am nächsten Morgen auf unsere Frage, wieviele Interessenten so ein Thema in so einem Nest finde.

Für uns birgt die dünne Besiedlung logistische Probleme: Wir müssen - erstens - genau planen, wo wir wieviel einkaufen. Das gelingt nicht immer, weil es eben nicht so viele Geschäfte gibt; manchmal wird es etwas knapp. Und zweitens ist auch das Übernachten etwas komplizierter. So kommen wir, weil wir abends um sechs Uhr keine Lust haben, nochmal zehn Kilometer in ein Dorf zu laufen, von dem nicht mal wissen, ob es dort etwas zum Übernachten gibt, zu unserer ersten Nacht im Wald.


Zwei Männer in einem Kleinlaster, die offenbar Wartungsarbeiten am Windpark verrichteten. Eine Frau, die uns in einem winzigen Dorf den öffentlichen Wasserhahn zeigte. Ein Bauer, der uns die beiden Fragen stellte, die Reisenden gestellt wird, seitdem es Reisende gibt: Woher kommt ihr? Wohin geht ihr? - Mehr Menschen haben wir an diesem Tag nicht gesehen - warum sollte es einem also unheimlich sein im Wald? Wir schlagen das Zelt unter hohen Fichten auf; kein Campingplatz, der einen so weichen Boden hätte. Daneben ein Bach, aus dem wir trinken und ihn den wir noch nackt steigen - krachkalt und eine Wohltat nach einem heißen, langen Tag. Wir kochen uns noch einen Kräutertee und liegen früh im Zelt.


Und ja, doch, ein bisschen unheimlich ist es eben doch, auch wenn die Wahrscheinlichkeit welchen Risikos auch immer gegen Null geht. Ungewohnte Geräusche der Zweige über uns, das plötzlich so laut plätschernde Plätschern des Baches, der leichte Regen, der ein paar Minuten lang aufs Zeltdach tröpfelt... Sehr merkwürdig, dass das Ungewohnte - es ist ja nicht einmal unbekannt, sondern nur ungewohnt - bei uns Zivilisationsgenossen eine bange Grundspannung erzeugt. Die natürlich am Morgen, als die Sonne die Baumwipfel erleuchtet und wir unseren heißen Nescafé im Alutässchen kühlpusten, der Erleichterung Platz gemacht hat, die sich stets nach überstandenen Abenteuern einstellt.

Immerhin, in einem kleinen, aber ganz hübschen Örtchen namens Fraïsse findet sich ein feines Hotel mit einem guten Restaurant, in dem wir ordentlich tafeln - bedient von einem Kellner, den es aus dem brasilianischen Nordosten in dieses 340-Seelen-Dorf verschlagen hat. Ein netter Kerl, der am nächsten Morgen beim Frühstück auch schon wieder arbeitet. Wir verabschieden uns ganz brasilianisch von Júnior, mit Abraço und Beijinho und Selfie.


In Mazamet, einer hübschen Kleinstadt drei Etappen vor Carcassonne, gehen wir wieder fein essen und schauen danach an, wie Brasilien seine Hoffnungen begraben muss, zum sechsten Mal Fußball-Weltmeister zu werden. Leider trinken wir in der Aufregung noch eine zweite Flasche Rosé, sodass wir am Tag darauf, bei einem langen Aufstieg, wieder unserem Zeitvertreib nachgehen können, uns Bildzeitungs-Schlagzeilen auszudenken:

DEUTSCHES RENTNER-PAAR FEIERT SECHSTEN HOCHZEITSTAG - ALKOHOLVERGIFTUNG!

Wir besteigen den Pic de Nore, den man wegen seiner 1211 Meter Höhe eigentlich nicht besonders würdigen müsste, und schon gar nicht wegen der hässlichen Antennen-Zigarre auf seinem breiten Gipfel. Aber der Pic de Nore hat das Alleinstellungsmerkmal, ziemlich allein zu stehen, und deswegen bietet er eine prächtige Fernsicht. Oder er böte sie, wenn es nicht etwas diesig wäre... Wir wissen deshalb gar nicht, was uns entgeht: der Blick aufs Mittelmeer in Richtung Osten, und nach Süden hin - am Tag darauf ist es etwas klarer - schon die nach Westen hin ansteigende Gipfelkette der Pyrenäen. 

Pic de Nore
Pic de Nore

Genauer geplant hatten wir nur bis Carcassonne - was heißt geplant; bis hierher folgen wir dem Europäischen Fernwanderweg Nr. 4, der von Gibraltar nach Athen führt, und bis hierher folgen wir den GPS-Tracks, die der schon früher erwähnte Spanier Manuel auf seinem Blog bereitstellt. Der E4 und mit ihm Manuels Route wenden sich von Carcassonne aus nach Süden. Wir jedoch wollen erst einmal ein Stück nach Westen, und dann planen wir, ein Stück weit den berühmten französischen Wanderweg GR 10 zu laufen, der vom Mittelmeer durch die Pyrenäen zum Atlantik führt. Die Bilder, die im Internet die Strecke illustrieren, lassen das Herz höher schlagen.


Das letzte Teilstück nach Carcassonne hatten wir uns als eher unattraktive Durchquerung von Vororten und Vorstädten vorgestellt. Völlig falsch - es gibt wahrscheinlich wenige Wanderwege, die mitten in eine Stadt von 50 000 Einwohnern führen und dabei so reizvoll sind wie dieser. Denn acht oder zehn Kilometer vor der Stadt schwenkt unser markierter Weg auf den Canal du Midi ein, der durch Carcassonne führt. Wir laufen also unter schattigen Platanen neben dem Kanal her, der - im Westen an die Garonne anschließend - Mittelmeer und Atlantik verbindet und auf dem heutzutage praktisch nur noch Touristenboote unterwegs sind, und zwar mit einer zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von neun Stundenkilometern. Es geht also sehr, sehr geruhsam zu an diesem einst gewaltigen, kühnen, revolutionären Bauvorhaben des Sonnenkönigs Ludwig XIV., das von 1667 bis 1681 verwirklicht wurde.

Ausgedacht hat es sich Pierre Paul Riquet, ein reicher Salzsteuereinnehmer, der sich als Hobby-Ingenieur betätigte. Um die Behörden von der Machbarkeit des für das 17. Jahrhundert kaum vorstellbaren Projektes zu überzeugen, baute er - was man sich heute gerne mal anschauen würde - ein Modell. Der entscheidende Punkt war die Frage, wo das Wasser verkommen sollte, das auf den höchsten, den Scheitelpunkt geleitet werden muss, um den Betrieb der Schleusen - heute verteilen sich auf die 241 Kilometer Kanallänge nicht weniger als 63 Schleusenanlagen mit 98 Scheusenkammern - zu gewährleisten. Wie nicht anders zu erwarten, traten zahllose unvorhergesehene Probleme auf - zum Beispiel kreuzende Bäche, die sich bei Sommerhochwasser in den Kanal ergossen und für die temporäre Querrinnen installiert wurden, die natürlich den Kanalverkehr unterbrachen.

Der einst steinreiche Riquet starb schwer verschuldet während der Bauarbeiten, die er zu 20 Prozent selber finanzierte und die natürlich viel teurer wurden als geplant. Den großen Rest übernahm der Staat, der den Betrieb gleichwohl der Familie Riquet überließ, sodass Riquets Erben ein paar Jahrzehnte nach der Fertigstellung wieder steinreich waren. Später wurde der Kanal verstaatlicht, und dann machten ihm zuerst die Eisen-, dann radikaler noch die Autobahnen den Garaus. Seit etwa den Siebzigern wird er nicht einmal mehr für Massengüter wie Kies oder Sand benützt. Sein Werdegang erinnert an den der Bergbauern in den Alpen: Die Grundlage dort einer Wirtschaftsform, hier eines Transportsystem wird obsolet, und dafür kommen die Touristen.

Familie Schönig
Familie Schönig

Die meisten Motorboote gehören der Firma Le Boat, sind also wohl gemietet. An einem der angelegten jedoch ist Schwarzrotgold geflaggt, wir rufen Guten Tag hinüber zum Salonkreuzer "Lady M", Heimathafen Berlin. Virginia und Wolfgang Schönig sind schon länger unterwegs als wir, seit letztem Jahr nämlich. Wie kommt man von Berlin mit dem Motorboot nach Carcassonne? Über den Mittellandkanal, über weitere Kanäle zur Rhône und ins Mittelmeer, wo die Schönigs überwintert haben, und dieses Jahr sind sie in den Canal du Midi gefahren.

Wir laufen weiter und fragen uns, ob wir nicht auch mal so ein Schiff mieten sollten, später mal. Aber der erste Nachteil, der uns abschreckt: Man kommt nie auf Berge. Der zweite: Alle nasenlang eine Schleuse, Warten, der Nicht-Steuermann (in der Praxis offenbar meist die Ehefrau) muss aussteigen und mit dem Tau hantieren. Der dritte: Vermutlich wird es schnell langweilig, dieses Fahren und Fahren. Der vierte: Zu wenig Kontakt mit der Umwelt in diesem schwimmenden Wohnmobil.


Nix für uns also, finden wir, und wir beschließen die Debatte mit einer Betrachtung, wie leicht man diese Ferienboote voller Computer und Handys und Brieftaschen und Eheringe überfallen und ausrauben könnte. "An der Schleuse bräuchte man nicht mal ein Boot, da langen drei Mann mit Knarren", sagt Anja, während wir die sich füllende Schleusenkammer und die nach oben gehobenen Touristen-Schiffchen beobachten. Oh, wir Brasilien-Geschädigten!


In Carcassonne haben wir drei Tage eine kleine, nette, zentral gelegene Wohnung gemietet. Die Cité, diese gewaltige mittelalterliche Festungsanlage, lässt uns eher kalt, vielleicht wegen des heftigen Touristentrubels. Aber das Stadtzentrum ist intakt, nett, lebendig, strahlt Lebensfreude aus.

Auf dem Platz schauen wir das Spiel Frankreich-Belgien an. Na schön, sollen sie die Marseillaise singen, wir wissen ja, warum uns das Absingen jeglicher Nationalhymne immer noch, immer wieder befremdet, trotz des Sommermärchens vor zwölf Jahre. "On est au finale!" finden wir eben nun mal angemessener.













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Kommentare: 5
  • #1

    Verena (Donnerstag, 12 Juli 2018 23:57)

    Wahnsinn ... so toll geschrieben — immer ein Stueck mit Euch — auch im —- krachkalten Bach :)))) abrazos .

  • #2

    Bärbel (Freitag, 13 Juli 2018 07:21)

    Heute mal folgen Euch ein paar neidvolle Gedanken einer zwangsläufig daheimgebliebenen Werktätigen aus Berlin. Vom Schreibtisch mit Umgebung aus betrachtet, gibt es gar keinen Zweifel: Gut gemacht habt Ihr das: Die Idee vom einfach mal weg sein, einfach mal realisiert und dann auch noch über Monate drangeblieben - (oder drauf, auf Schusters Rappen...). Respekt! und Glückauf - habt weiter Spaß, gutes Wetter, stets zu essen und keine Blasen.

  • #3

    Gutti (Freitag, 13 Juli 2018 07:28)

    So interessant und spannend euer Bericht! Bewundere und beneide euch! Gute weiterreise! Herzlichst gitti

  • #4

    Ingeborg und Dieter (Freitag, 13 Juli 2018 17:16)

    Schade, schon wieder fertig. Wir sind in Gedanken immer ein bisschen mit auf Tour. Heute haben wir auch ein bisschen das passende "Fussgefühl" nach dreistündigem barfussmarsch entlang vom Strand von Sylt. Für einen spannenden Bericht langt das natürlich nicht. Immer gleich schön.

  • #5

    Monika (Samstag, 14 Juli 2018)

    Hei, so trink' nur:
    trau' meiner Kunst!
    In Nacht und Nebel
    sinken die Sinne dir bald:
    ohne Wach' und Wissen,
    stracks streckst du die Glieder.
    Lieg'st du nun da,
    leicht könnt' ich
    die Beute nehmen und bergen:
    doch erwachtest du je,
    nirgends wär' ich
    sicher vor dir,
    hätt' ich selbst auch den Ring.
    D'rum mit dem Schwert,
    das so scharf du schuf'st,
    hau' ich dem Kind
    den Kopf erst ab:
    dann hab' ich mir Ruh' und den Ring!