Stadt. Land. Fuß.

Der Süden! Dass er irgendwann beginnt, wenn man auf der Route Napoléon nach Grenoble die hohen Berge hinter sich gelassen hat, das wissen wir, seit wir in die Provence fahren. Aber zu Fuß hat man mehr Zeit und Muße, man passt besser auf, man registriert die Veränderung genauer: Nun beginnt er, der Süden - aber wann genau? Und warum? Woran merkt man das?
Wir haben die Veränderung an einem einzigen Tag jäh gespürt, gesehen, erkannnt und benannt, ganz plötzlich. Plötzlich, fast von einem Dorf zum anderen, waren die Dächer der Häuser deutlich weniger geneigt, weil sie im Winter keine Schneemassen mehr aushalten müssen, und plötzlich ragen kerzengerade die Zypressen in den Himmel. Plötzlich bestehen die Wälder nicht mehr aus Fichten und Buchen, sondern aus Pinien und den kleinwüchsigen Eichengehölzen Südfrankreichs. Plötzlich schwelgen die Wegesränder in üppigem Ginstergelb, so üppig, wie wir es seit unseren Ferien in Patagonien vor acht oder neun Jahren nicht mehr gesehen haben. Und plötzlich fällt uns auch das blassrosa blühende Kraut auf, das wir erfreut als wilden Thymian identifizieren.
Plötzlich? Naja, vielleicht fügte sich unsere Aufmerksamkeit für diese Veränderung auch ein bisschen unseren Erwartungen. Auf der anderen Seite laufen wir an diesem Tag die Südwestseite des Massivs von Vercors hinab - kein Wunder, dass sich dort das Klima und folglich die Natur ändert. Das sind gar nicht so viele Höhenmeter, die wir absteigen. Aber wir verlassen das Gebirgsmassiv.

Oft sind wir früher die Autobahn nach Süden heruntergebrettert, an Grenoble vorbei, und haben ehrfürchtig nach links hinaufgeschaut zu den Schneegipfeln der Alpen, und auch nach rechts zu den schroffen steinernen Wänden, die hoch über der Isère und über Grenoble stehen. "Chartreuse" steht auf den braunen Schildern, die in Frankreich auf landschaftliche Besonderheiten hinweisen. Eindrucksvoll, jaja, aber gehalten hat man nie. Aber jetzt führt der Fernwanderweg durch dieses über 2000 Meter hohe Massiv nördlich von Grenoble, schraubt sich dann herunter ins Tal der Isère - Grenoble liegt nur auf gut 200 Metern Höhe - und steigt südlich von Grenoble wieder in die Höhen des Vercors an. Wir erleben nochmal - hoffentlich zum letzten Mal - die jahreszeitliche Verzerrung, die uns Höhe und Kälte bescheren: Unten ist der Flieder schon verblüht, oben wagen sich gerade mal Huflattich und Krokus aus der Erde. 

Wegen des Eisenbahnerstreiks fahren wir nach unseren entspannten Pausentagen in Aix-les-Bains schon früh nach Chambery, von dort geht der Bus zu dem Örtchen, wo wir den Fernwanderweg GR 9 wiederfinden wollen, den wir aus Frust vor den Schneefeldern nördlich von Genf verlassen haben. Die paar Stunden Wartezeit in Chambery werden für Wolfgangs ersten Haarschnitt auf dem europäischen Kontinent seit der Rückkehr aus Brasilien genutzt. Ein Ereignis, das hier eine seine Bedeutung weit überschreitende Würdigung erfährt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist der Haarschnitt von Chambery in einem eindrucksvollen Bilddokument festgehalten, und zweitens bietet er Gelegenheit, die Geschichte vom Friseur in Timbuktu zu erzählen, der mir vor etwa zwanzig Jahren einen Haarschnitt verpasst hat, mit dem mich glatt die Fremdenlegion genommen hätte. "Natürlich kann ich Europäer", beteuerte der selbsternannte offizielle Friseur der Rallye Paris-Dakar, als ich vorsichtig die Unterschiede des afrikanischen und des europäischen Haarwuchses ansprach, "ich kann sogar Frauen und Hunde!"


Drei Tage später laufen wir eine endlose Zickzack-Steigung hinauf auf eine Art Plateau, sozusagen das Dach der Chartreuse. Es ist Sonntag, der Weg ist stark frequentiert, oben rät uns ein Umweltpolizist energisch ab, das ganze Plateau nach Süden zu gehen, so wie das der Spanier Manuel und sein Mitwanderer Paul im Hochsommer in umgekehrter Richtung getan haben. Er braucht nicht lange, um uns zu überzeugen - über Schneefelder wollten wir schon Ende März nicht mehr rutschen, und Ende Mai schon gleich zweimal nicht.

Anders als auf unserem Juraweg in der Schweiz sind die Hütten in der Chartreuse nicht bewirtschaftet, und schlimmer noch, es gibt - jedenfalls wenn nicht gerade ein Umweltpolizist zugegen ist - keine verlässliche Information darüber, ob sie überhaupt geöffnet sind. Wir lernen, dass die Hütten nicht, wie in Deutschland, von Wandervereinen und ihren Freiwilligen unterhalten werden, sondern von den Gemeinden. Die bauten und betrieben sie früher für ihre Hirten und Herden, und seitdem es die kaum noch gibt, sind die Gemeinden dazu übergegangen, sich dieser finanziellen Last zu entledigen. Sie verkaufen oder verpachten die Hütten an Privatleute, die sie für sich nutzen - der Wanderer steht also vor verrammelten Türen und Fensterläden. Die Hütten, die noch offen sind, stehen leider nicht unbedingt dort, wo man sie braucht, also - in unserem Fall - ungefähr in der Mitte der langen Strecke über dieses Hochplateau. Sondern ziemlich zu Anfang - wir hätten schon kurz nach Mittag dort bleiben müssen und dafür am nächsten Tag eine gewaltige Etappe gehabt. Wir laufen das Plateau also zwei Stunden entlang, steigen ab, trampen am nächsten Tag zwölf Kilometer und steigen bei prächtigem Sonnenschein wieder auf. Der Höhepunkt ist der Moment, in dem wir dem Grat erreichen und plötzlich einem Panorama-Blick auf die verschneiten Alpengipfel im Osten haben. Da wir uns ziemlich weit oben bewegen, stehen uns auch die benachbarten Gipfel der Chartreuse wie gewaltige Kegel gegenüber.

Wie schon gesagt: Schürzenjäger, Düsenjäger, Schnäppchenjäger sind uns bekannt - aber Grammjäger? Sind das Autogrammjäger ohne Auto, so wie wir? Wir finden die ulkige Vokabel auf der Verpackung des angeblich kleinsten und leichtesten Gaskochers der Welt. Nachdem wir es satt hatten, Abend für Abend das Übernachtungsquartier für den nächsten Tag zu suchen, zu buchen und dabei x mal das berüchtigte "je sui desolé, Madame!" zu hören, haben wir uns in Grenoble ein Zelt gekauft - mit einem Gewicht von nur 1400 Gramm geradezu die Apotheose des Grammjägerwesens.
Der wahre Grammjäger und die wahre Grammjägerin denken natürlich in den Kategorien von Bilanzen: Wenn Gramme hinzukommen, von welchen Grammen muss oder kann man sich dann trennen? - Anjas schwarze Baumwolljacke ist das lohnendste Opfer des Grammbilanzausgleichs: In der Obstabteilung von Carrefour auf die Waage gelegt, bringt sie es auf satte 544 Gramm, und damit ist ihr Schicksal besiegelt. Zweites Opfer ist eine 30 Jahre alte Wanderkarte der Cevennen. Wir brauchen eigentlich keine Karten, wir würden sie ja nur von einer Seite zur anderen durchlaufen, uns langen die Tracks, die wir fürs GPS-Gerät herunterladen. Trotzdem - Jacke plus Karte gegen Zelt plus Kocher plus Gaskartusche plus Töpfchen plus Alubecher, diese Grammbilanz ist natürlich längst nicht ausgeglichen. Man gewöhnt sich zwar ans Mehrgewicht. Aber von Grenoble hinauf auf das Vercors-Massiv - hui, erstmal merkt man es ganz schön, dass der Rucksack mehr wiegt.

Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Grenoble, schlägt Anja als Altersjob vor, so gut gefällt uns diese Stadt, deren Jahrhunderte alten Reichtum einer Handelsstadt zwischen Nord und Süd man auf Schritt und Tritt sieht. Grenoble hat die drittgrößte Kunstsammlung Frankreichs; als wir nach vier Stunden etwas erschöpft das Museum verlassen, stellen wir fest, dass wir ganze Abteilungen verpasst haben.

Das Musée Dauphinois, eine Art gigantisches Heimatmuseum, zeigt eine Ausstellung über die Winterolympiade vor fünfzig Jahre. Uns reichen die ersten zwei Säle, dann brechen wir ab. Die verlogene Olympia-Begeistung ist uns vor zwei Jahren in Rio genug auf die Nerven gegangen, und dass man nicht einmal in der Rückschau fünfzig Jahre später von der albernen hymnisch-propandistischen Tonlage absehen kann, ist unerquicklich. Dafür finden wir in einem anderen Stockwerk des riesigen Gemäuers eine interessante Ausstellung über die gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in den Westalpen: Wie - kurz gesagt - die bergbäuerliche Lebensweise verschwand und durch den Tourismus ersetzt wurde. Dass eine uralte Lebensweise nicht fortbestehen konnte, bedauert man natürlich erst einmal. Aber wenn man die Armut der Bergdörfer sieht, die die Fotos von vor hundert Jahren dokumentieren, relativiert sich das Bedauern. Interessantes Detail: Die Bergbauern waren zu einem höheren Grad alfabetisiert und generell gebildeter als ihre Kollegen im Tal, weil sie, platt gesagt, viel Zeit zum Lesenlernen hatten, während sie eingeschneit waren.

Im Vercors ist das Wetter bescheiden, jeden Tag müssen wir die Regenhose überziehen. Immerhin haben wir, wenn der Himmel mal aufreißt, weite Sicht ins westliche Flachland. Nach zwei Wandertagen haben wir das Siedlungsgebiet der reichen Grenobler mit Landhaus verlassen. Das merkt man am Croissant-Preis, der von 1,30 wieder auf 0,95 Euro sinkt. Besonders gut gefällt uns Pont-en-Royan, ein Städtchen, dessen Häuser hoch über dem Flüsschen an die Felswände geklebt sind.

Der Regen zwingt uns, ganz gegen unseren Willen, mitunter zu Dauerläufen. Denn in Frankreichs Wäldern gibt es auch keine Bänke, keine Schutzhütten, keine Unterstände. Also bei Regen auch keine Pausen, es sei denn ganz kurze im Stehen. Oder wenn doch mal ein Dorf kommt, in dem das "Café de la Paix" beziehungsweise die "Bar des Sports" nicht schon vor zehn Jahren geschlossen hat. So laufen wir immer mal wieder acht Stunden am Stück, durchaus zu unserem Missvergnügen, und abends ist dann eine Ladung Voltaren für die Füße fällig. Apropos Fuß: Allen Blogleserinnen und -lesern, die uns blasenfreies Laufen gewünscht haben - und das waren nicht wenige-, sei mitgeteilt, dass wir keine Blasen mehr haben. Fuß und Schuh befinden sich mittlerweile im Zustand perfekter Harmonie.

In einem Weiler mit dem ländlichen Namen La Vacherie, wo wir ein Zimmer in einem nun als Pension fungierenden früheren Kinderferienheim nehmen, kännen wir endlich mal wieder in der Abendsonne sitzen, nachdem wir noch am Vormittag kalt und nass durch Nebel und Wolken geschritten sind. Am nächsten Tag steigen wir die Südwestflanke des Vercors ab - und plötzlich scheint das Mittelmeer nicht mehr fern zu sein.

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Kommentare: 6
  • #1

    Alberto Veiga (Freitag, 15 Juni 2018 22:54)

    Avante!!

  • #2

    smnouvelles@gmail.com (Samstag, 16 Juni 2018 16:25)

    Super viagem que vocês estão fazendo, Linda paisagem.
    Sonia

  • #3

    Marco Stirn (Samstag, 16 Juni 2018 21:03)

    Hi Anja,
    es macht so Spaß euch zu begleiten, weiter so. Jetzt scheint es ja so langsam heiß zu werden. Hier haben die peruanischen Kämpfer gegen die lahmen Dänen in der WM verloren. Und Frankreich das erste Match mit Schwierigkeiten gewonnen. Wie bekomme ich die Gotos größer?
    Grüße Marco

  • #4

    Anja (Samstag, 16 Juni 2018 22:07)

    Lieber Marco, freut mich sehr, dass dir der blog gefällt! Ja die Peruaner hätte ich auch gerne gesehen, aber da latschten wir noch durch die Ardeche. Bei den Fotos muss ich das, glaube ich, einstellen, ich vesuchs mal..

  • #5

    Monika (Montag, 18 Juni 2018 11:18)

    "Mein Vöglein schwebte mir fort.
    Mit flatterndem Flug
    und süßem Sang
    wies es mich wonnig des Wegs:
    nun schwand es fern mir davon! -
    Am besten find ich mir
    selbst nun den Berg:
    wohin mein Führer mich wies,
    dahin wandr ich jetzt fort. -"

  • #6

    Tanja (Dienstag, 19 Juni 2018 12:33)

    Ich kenn wieder nur den anderen Chartreuse. Der ist giftgrün und hat 56 % . Aber leecker !