Manuel Coronado Gil läuft den E4, den Europäischen Fernwanderweg von Gibraltar nach Zypern, und zwar seit Jahren. Das heißt nicht, dass er noch mehr Zeit hätte als wir. Im Gegenteil, der Spanier
arbeitet noch, in jedem Urlaub läuft er zusammen mit Paul - wer Paul ist, würde man vermutlich erfahren, wenn man Manuels Blogbeiträge von Gilbraltar an läse - vier oder fünf Wochen den E4. Wenn
der Urlaub vorbei ist, fährt jeder zu sich nach Hause zurück, und im nächsten Urlaub nehmen sie die Wanderung dort wieder auf, wo sie sie im Vorjahr abgebrochen haben. Deshalb sind sie seit
Jahren unterwegs, zurzeit sind sie in Ungarn.
Seit Biel laufen wir also auf Manuels und Pauls Spuren, wenn auch in umgekehrter Richtung. Manuels Blog namens "Destino Atenas", also Ziel Athen, zu lesen war vor allem in Brasilien, bei der
Vorbereitung unserer Wanderung, ein wunderbar vorfreudiges Träumen. Mittlerweile sind uns Manuel und Paul allerdings etwas unheimlich geworden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, obwohl sie
durchaus schon etwas angejahrt sind, laufen sie wie die Teufel. 38 Kilometer am Tag scheint für sie nichts Besonderes zu sein; aus solchen Mammutstrecken machen wir ohne viel Federlesens zwei
Etappen. Und zweitens führt Manuel seinen Blog auf mustergültig akkurate Art: Über einzelnen Tag schreibt er ausführlich, ergänzt durch jede Menge Fotos, ferner Karte und GPS-Tracks. Wie macht
der Bursche das - setzt der sich nach 38 Kilometern etwa noch an den Computer?
Nein, ganz so emsig ist er doch nicht. Wenn man sozusagen das Kleingedruckte liest, dann sieht man: Manuel hat das alles geschrieben, als er wieder zu Hause war.
Aber das ändert nichts daran, dass wir mächtig hinterherhinken mit unserem Heldenepos.
Der nette Nebeneffekt unserer Art zu reisen: Die Übernachtungsorte sind extrem abwechselungsreich. Wenn man mit dem Auto durch die Lande fährt, ist das zwar grundsätzlich auch so. Aber anders als
Autofahrer haben wir nicht die Möglichkeit, noch ein Stückchen weiter zu fahren, wenn das Hotel nicht so gefällt. Wir müssen nehmen, wie es kommt. Also kommt es recht abwechslungsreich.
So sind wir, ganz normal, mal im Hotel de la Poste gelandet, mit Blick auf den Platz, und die Post natürlich, und abends sind wir in den Migrationshintergrund eingetaucht, mit dem Bier beim
Spanier - es gab auch Caipirinha - und dem Kebab von gegenüber. Zwei Tage später haben wir in der Polizeiwache von 1880 logiert, die Veronique und Florent, die ihre Jobs als Krankenschwester und
Versicherungsmakler dafür an den Nagel gehängt haben, in eine piekfeine Herberge (chambre d'hôtes) umgebaut haben. Bei Madame Ksander war es geräumig, kalt und etwas ungemütlich, aber dafür hat
uns Madame Ksander - sie verbringt den Winter immer in Wien und sprach ein wunderbares Österreichisch mit leichtem französischen Akzent - elf Kilometer weit zum nächsten Supermarkt gefahren und
nett gewartet, bis wir uns das Abendessen zusammengekauft hatten.
Südlich von Grenoble, in Autrans, wo Jean Claude Killy 1968 bei der Winterolympiade seine Medaillen erkämpfte, öffnete sich uns ein todschickes Design-Gästehaus, in dem alle
Einrichtungsvorschläge aus sämtlichen französischen Schöner-Wohnen-Publikationen der vergangenen fünf Jahre verwirklicht schienen; die Küche war so perfekt ausgestattet, wie man sie selber gerne
zuhause hätte. Etwas konventioneller ging es in einem ehemaligen Bauernhof zu, in dem das Zimmer ganz und gar in rotweißkariert dekoriert war, inklusive der Vorhang, hinter dem sich in einer
Wandnische der Fernseher verbarg - wie schade, dass nicht auch das Klopapier noch rotweißkariert war! Und die mönchisch kargen Öko-Quartiere werfen immer wieder die Frage auf, ob es wirklich
ökologische Gründe sind, aus denen dem Gast Bettwäsche ("Sie haben doch Schlafsäcke?") verwehrt werden, oder vielleicht doch eher schnöde ökonomische.
Madame Cathérine, eine pensionierte Lehrerin, empfing uns mit Tee und selbstgebackenem Kuchen in ihrem entzückend renovierten Bauernhaus, zum Frühstück gab es gleich noch einen zweiten frisch
gebackenen Kuchen. Sie nahm die Mühe auf sich, sich mit diesen beiden radebrechenden Gringos zu unterhalten, erkundigte sich über Brasilien, erzählte von ihrem Hausumbau und ihren Reiseplänen...
Auch den Schreinermeister halten wir hoch in unser Erinnerung, der uns sein aus dem 18. Jahrhundert stammendes Haus öffnete, als wir erschöpft von einer langen, anstrengenden Tour und tropfnass
von einem Hagelgewitter vor seiner Tür standen. Er hatte das Haus der Familie vor ein paar Jahren zu einer "gîte" umgebaut, wobei außer ein paar Grundmauern und einigen ehrwürdigen Dachbalken
eigentlich alles neu war. Er bot uns an, uns noch ins Restaurant zu fahren, und als wir wegen des Regens etwas zögernd ablehnten, lud er uns zu sich ein, zu Nudeln mit Butter und Käse und Brot
und Schinken und einem Glas Wein. In einer der Öko-Herbergen aßen wir mit einem Paar aus dem Elsass zu Abend, das V.T.T. fährt - vélo tout terrain, auf deutsch Mountain biking. Der Wirt aß mit am
Tisch, ein Naturfreund, der sich diese Herberge und ihren offenbar nicht berauschenden Gang der Geschäfte vor fünf Jahren aufgebürdet hat.
Mit spezieller Neugier gingen wir dem Hotel du Sapin in Bouvante-en-bas entgegen, denn Paul, der Wandergenosse des emsigen spanischen Blogschreibers, hatte es mit dem Hotel aus Hitchcocks Film "Psycho" verglichen. Die erste freudige Überraschung: Es existiert noch, und es war geöffnet. Die zweite: Der Holzofen war angeheizt, und das Ende Mai, und wir durften unsere gesamte, von einem langen Regentag durchnässte Garderobe auf diversen Stühlen um den Ofen herum ausbreiten. Die dritte: Es gab ein Menü, das zwar nicht gerade ein Höhenflug der französischen Haute Cuisine war, das aber ungeheuer gut reinfuhr. Die vierte: Wir wurden im renovierten Trakt des Hauses untergebracht, wobei die Renovierung vielleicht schon dreißig oder vierzig Jahre her ist, das Hotel stammte nämlich noch aus der Zeit "avant la guerre", wie die Chefin, Madame Breynat, sagte, wofür ja auch die atemberaubende Flurtapezierung sprach, die wir bildlich dokumentieren. Die fünfte: Die Dusche im Badezimmer hatte tatsächlich keinen Vorhang mehr - kein Wunder, dass Paul sich an "Psycho" erinnert fühlte.
Bescheidenheit, Normalität, Luxus, Skurrilität - unsere Art des Reisens bietet all das. Leider birgt sie auch eine Gefahr, nämlich die, dass man weder etwas Bescheidenes noch etwas Normales, weder etwas Luxuriöses noch etwas Skurriles zum Übernachten findet, sondern einfach nichts. So wie in jenem Städtchen - den Namen wollen wir uns gar nicht merken -, von dessen drei Hotels eines ausgebucht und zwei geschlossen waren. An dieser Stelle winden wir der Familie Capelle zum Dank einen Lorbeerkranz, sie nahm uns in ihrem Citroën mit und fuhr uns 25 Kilometer weit in das nächste, auf die Schnelle im Internet gebuchte Hotel, und zwar bis vor die Haustür.
Unser bisher blödester Tag endete ganz blöd im blöden Ibis-Hotel in Bourg-en-Bresse, wo die Zimmer für 101 Euro die Nacht so eng sind, dass man kaum Platz findet, um zwei Rucksäcke abzustellen
und wo man sich schräg auf die Toilette setzen muss, um nicht mit den Knien ans Waschbecken zu stoßen. Wir waren acht Stunden lang in Nebel und Regen über einen einzigen, endlosen Höhenzug
gelaufen, ohne Pause und immer im Wald, auf einem Weg, der über Kilometer hinweg durch die trostlosen Gestrüppe führte, die die asiatische Raupenplage hinterlässt, die nach Frankreich auch schon
Teile Deutschlands heimsucht. Als wir in einen Ort mit drei übernachtungsmöglichkeiten absteigen, bekommen wir dreimal das berüchtigte "je suis désolé" zu hören, also trampen wir nach
Bourg-en-Bresse. Und im blöden Ibis stellen wir fest, dass sämtliche Übernachtungsmöglichkeiten, die in unserem Aktionsradius von 25 Kilometern liegen, ausgebucht sind, wegen einer
Sportveranstaltung, wie die Dame an der Rezeption des blöden Ibis sagt.
Selten hat Helden in Wanderschuhen das Scheitern so viel Spaß gemacht wie uns am nächsten Tag. Trotz eines Eisenbahnerstreikes saßen wir am Vormittag im Schnellzug, die Wolkendecke brach auf, und
nach einer Stunde Fahrt blinzelten wir in Aix-les-Bains beim Kaffeetrinken in die Sonne. Anja hatte vom Zug aus ein nettes, kleines "studio" gemietet, also ein kleines Apartement mit Balkon und
Küchenzeile. Wir legen zwei Ruhetage ein in diesem Städtchen, das, wie vermutlich alle Badeorte, von etwas bräsiger Betulichkeit ist. Wir gehen spazieren, schauen die Impressionisten-Sammlung an,
die einst ein Bürger der Stadt zusammengetragen hat, lesen auf unserem Balkon und freuen uns, mal wieder selber kochen zu können.
In Aix sagt Anja einen Satz, der in den fast 14 Jahren, die wir zusammen sind, so noch nie fiel: "Ich würde gerne mal Fleisch essen". In einer Metzgerei kaufen wir ein Anderthalb-Kilo-Huhn, das
vor seinem Tod sicherlich ein ganz und gar glückliches Hühner-Leben in der Auvergne führte, braten es und essen es bis auf zwei Schlegel am gleichen Abend auf. Vermutlich war es das beste Huhn,
das wir je gegessen haben. Ein absolutes Superlativ-Huhn.
Ohnehin ist der wandernde menschliche Körper offenbar eine ganz anders arbeitende Futterverarbeitungsmaschine als der nicht wandernde. Dass man, auf Deutsch gesagt, fressen kann wie ein
Scheunendrescher, liegt bei acht oder neun Stunden Laufen auf der Hand. Aber erstaunlicherweise kommen wir an manchen Tagen auch mit einem Frühstück und einen Haps Brot über den Tag, ohne Hunger
oder auch nur Appetit zu verspüren. Salat haben wir beide immer gern gegessen, aber jetzt stürzen wir uns mit Heißhunger drauf. Anja, die seit 14 Jahren Butter nur für den Besuch im Kühlschrank
hatte, schmiert sich plötzlich Butter aufs Brot. Ohne Gürtel übrigens würden meine Wanderhosen widerstandslos zu Boden rutschen, dazu müsste ich nicht einmal mehr den Bauch einziehen.
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Wolfgang (Donnerstag, 07 Juni 2018 15:35)
Monika... wo ist nun deine Weisheit gegen diese Wirrnis? Wo sind deine Runen gegen dies Rätsel???
Monika (Montag, 18 Juni 2018 11:08)
"Wen ich liebe,
laß ich für sich gewähren:
er steh oder fall,
sein Herr ist er;
Helden nur können mir frommen."