Grüezi miteinand!


Vorweg herzlichen Dank für die Geburtstagsglückwünsche! Wie gesagt, ich habe mich zur Feier des Tages in einer Wiese voller wildwachsenden Osterglocken gewälzt. Das hatte ich noch nie in den vorangegangenen 67 Jahren. Den Witz des Tages hat Anja am Tag vorher gebracht, nach acht Stunden Wandern: "Sollen wir nicht reinfeiern?!"


"Grüezi!" - setzt man sich als Nicht-Schweizer dem Verdacht aus, sich anbiedern zu wollen, wenn man so grüßt? Steht man nicht lieber offen und ehrlich zu seinem Nichtschweizertum und sagt "Hallo" oder "Guten Tag"? Oder wird das dann etwa als hochnäsig-deutsch empfunden?

Naja. Es gibt jedenfalls größere Probleme auf der Welt als das. Und wir begannen es vollends gelassen zu nehmen, nachdem uns ein Afrikaner, mit dem sich Schritte und Blicke kreuzten, mit "Grüezi miteinand" gegrüßt hatte.

Im übrigen war das Problem schnell aus der Welt. Zweieinhalb Etappen südwestlich von Basel über einen Berg gelaufen - und schon hieß es statt "grüezi" nur noch "bon jour". 


Modelleisenbahn-Anlagen, so groß sie auch sein mögen, haben nie hohe Berge. Das liegt daran, dass der Berg aus der Sicht des Modelleisenbahn-Freundes immer nur ein Vorwand ist für einen Tunnel. Am Tunnel ist aber nur das Hinein- und das Herausfahren interessant. Wäre der Berg sehr hoch, müsste seine Basis sehr breit sein, folglich wäre der Tunnel sehr lang. Der Zug wäre also lang nicht zu sehen - und was soll eine Modelleisenbahn, die man nicht sieht?



Diese Erwägungen über das Tunnelwesen im Modelleisenbahnbau führen uns direkt ins Schweizer Jura zwischen Basel und Biel. Nicht allzu hohe Höhen, tiefe Täler, kleine Orte aus idyllischen Faller-Häuschen und viele Züge mit hübschen Tunneln - eine Landschaft wie eine Modelleisenbahn-Anlage. Je nachdem, ob wir auf der Süd- oder der Nordseite und in geschützten Tiefen oder raueren Höhen laufen, ist der Frühling drei Wochen weiter fortgeschritten oder weiter zurück. Fast schon in Südeuropa angekommen fühlen wir uns in Délémont, wo die halbe Stadt vor den Altstadt-Kneipen in der Abendsonne zu sitzen scheint. Wir lassen uns im Café de l'Espagne nieder, unter den frischen Trieben alter Kastanien.

Um einen Holzwürfel von 70 Zentimeter Seitenlänge - um soviel nimmt die kommerziell verwertbare Menge an Holz in der Schweiz zu, und zwar in jeder Sekunde. Diese Kenntnis verdanken wir dem Berufsschullehrer, der zusammen mit fünf Sägemeister-Lehrlingen in derselben Unterkunft des Schweizer Alpenvereins übernachteten, in der auch wir unsere Schlafsäcke ausrollten. Der Lehrer erzählte außerdem, wegen der irrwitzigen China-Nachfrage sei vor allem bei Eiche das Preisgefüge völlig verzerrt, und er fügte eine kuriose Klage an: Die Schweiz exportiere unbearbeitete Rohstoffe - also Eichenstämme - nach China und importiere verarbeitete Industriegüter im Gegenzug. Das wäre also genau das Muster, dem afrikanische oder lateinamerikanische Volkswirtschaften klassischerweise gehorchen. Mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass die Schweiz anders als eine afrikanische Rohstoffökonomie nicht nur Rohstoffe im Angebot hat. Wer weiß, womöglich werden die Schweizer Eichen in China von computergesteuerten Sägewerke made in Switzerland in hauchfeine Furniere zerschält.

Anders als ihre Berufsbezeichnung nahelegt, haben uns die angehenden Sägemeister nachts nicht gestört. Das ist ermutigend, denn das so genannten Massenlager - auf französisch heißt es etwas weniger abschreckend "dortoir" - wird uns künftig öfter mal beherbergen. Erstens weil es entlang der Wanderwege manchmal nicht viel anderes gibt. Und zweitens aus Kostengründen, jedenfalls in der Schweiz, wo unter 100 Euro weder in einer Pension noch in einem Hotel ein Zimmer für zwei zu haben ist. Selbst für die mönchisch karge Zelle in der Jugendherberge von Délémont zahlen wir flotte 74 Euro pro Nacht.


60 000 Kilometer Wanderwege führen durch die Schweiz, und die, auf denen wir gewandert sind, waren, wie in der Schweiz nicht anders zu erwarten, vorbildlich markiert. Betreutes Wandern, sozusagen: irgendwo stoßen wir sogar auf den Wegweiser, der den Weg zum "Hauptwegweiser" weist. Selbst im Zentrum von Basel - wir verbringen einen Sonntag in den drei Gebäuden des Kunstmuseums und staunen über deren Inhalt, Ausweis des alten und des gegenwärtigen Reichtums der Stadt - finden wir sofort den Hinweis auf unseren Weg, der uns fünf Tagesetappen lang durch das nördliche Jura führt. Anders als in Deutschland ist die Distanz zu den Zielen nicht in Kilometern, sondern in Stunden und Minuten angegeben. Wir Helden brauchen eigentlich immer länger in unseren Wanderschuhen....

Kurz vor Biel steigen wir in einem der niedlichen Züge und fahren nach Bern.
Wir besuchen Benita und Joachim, alte Freunde aus Wiesbaden, die es beruflich nach Bern verschlagen hat. Ein Wiedersehen nach vielen Jahren in ihrer Wohnung, und der erste Spargel für uns bei einem wundervollen Abendessen. Am nächsten Tag machen sie mit uns einen Ausflug in die Umgebung von Bern, und hier endet die Modelleisenbahnwelt, denn zwischen Schneefeldern stehen wir ehrfürchtig vor den Dreitausendern, der Wind pfeift uns um die Ohren, eher Heidiwelt...Am Tag drauf noch ein Stadtbummel durch Bern. Grossbürgerliche Gemütlichkeit, gediegener Charme. Unter der Brücke über der türkisblauen Aare soll ein Netz potenzielle Selbstmörder auffangen. 


Mit dem Zug fahren wir nach Biel zurück, genauer gesagt in einen Nachbarvorort namens Taubenloch. Wir steigen einen schier endlosen Hang hinauf in die Höhen des Jura, und damit laufen wir erstmals auf dem Europäischen Fernwanderweg E4, der von Gibraltar nach Zypern verläuft. Hier in der Schweiz ist er als Jura-Höhenweg ausgezeichnet, einer der ältesten Wanderwege des Landes. Er verläuft meist auf zwischen 1000 und 1400 Metern Höhe, nur zweimal erklimmt er Gipfel, die knapp 1600 Meter übersteigen.


Nichts gegen Schwarzwald oder Kaiserstuhl, meint Anja, aber die Schweiz sei ja nun einfach mal spektakulärer. Ja, so isses: Tagelang wandern wir über die Höhenzüge, fast immer mit Blick auf den Bieler See und die gewaltige Kette von Alpengipfeln, den Mont Blanc eingeschlossen, alle in majestätisches Schneeweiß gehüllt. Und im Jura laufen wir über Wiesen mit wilden Krokussen und Osterglocken, in denen sich Wolfgang auf dem Foto ausgestreckt hat. In drei Wochen, sagt eine Bauersfrau, bei der wir die Wasserflaschen füllen, wird das Vieh auf die Almen getrieben, weil dann das Gras hoch genug steht. Dann sind die Osterglocken wohl verblüht, und falls doch noch welche stehen geblieben sind, werden sie unweigerlich in Milch und Schweizer Käse transformiert.

Fünf Tagesetappen sind es noch in der Schweiz. In der Ferne sehen - naja: ahnen - wir schon den Genfer See.

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Kommentare: 5
  • #1

    Schmid (Sonntag, 29 April 2018 10:44)

    Warum sollen schwarze Schweizer nicht "Grüezi" sagen? Bloß, weil
    sie schwarz sind?

  • #2

    Monika (Sonntag, 29 April 2018 14:32)

    "Über Stock und Stein zu Thal
    stapfen sie hin;
    durch des Rheines Wasserfurth
    waten die Riesen:
    fröhlich nicht
    hängt Freia
    den Rauhen über dem Rücken! -
    Heia! hei!
    Wie taumeln die Tölpel dahin!
    Durch das Thal talpen sie schon:
    wohl an Riesenheims Mark
    Erst halten sie Rast!"

  • #3

    Sophie (Sonntag, 29 April 2018 17:43)

    Ach, wir verpassen Euch! Wir fahren Ende Mai in die Schweiz. Da seid Ihr dann aber längst über alle Berge, oder?

  • #4

    Wolfgang (Montag, 30 April 2018 08:50)

    Monika.... Muss ich dir nochmals danken, du rastlos scheue Magd?

  • #5

    Lutz (Samstag, 12 Mai 2018 13:56)

    soweit ich weiß, sagt man Grüezi vor allem in Zürich, die Bewohnerinnen dieser Stadt sollen sogar den Nickname "Gruezis" haben.